Dienstag, Mai 30, 2006

"Kaltblütig" - Psychologie des Verbrechens

Im November 1959 werden in einem kleinen Dorf in Kansas vier Menschen scheinbar ohne Motiv brutal in ihrem eigenen Haus umgebracht. Kleine Details am Tatort, die dank der sorgfälltigen Untersuchung des Polizeibeamten Alvin Dewey entdeckt werden, sorgen für weitere Verwirrung. Einem der Opfer, dem Sohn Kenyon, etwa hatten die Täter vor seinem Tod ein Kissen hinter den Kopf geschoben, Nancy, die 16jähirge Tochter, sorgfältig zugedeckt.
In dem kleinen Dorf Holcomb und der nahligenden Stadt Garden City greift Verunsicherung und Misstrauen um sich, wer hätte ein Interesse daran, den von allen gemochten und respektierten Herb Clutter, eines der angesehensten Mitglieder der Bürgerschaft von Garden City, und seine gesamte Familie zu ermorden.

Der 35jährige Truman Capote("Frühstück bei Tiffany"), gefeiertster amerikanischer Schriftsteller seiner Generation, liest von dem Fall in der Zeitung und beschließt ihn zur Grundlage einer nahezu vorbildlosen neuen literarischen Gattung zu machen - dem Tatsachenroman (Non-fictional Novel). Akribisch recherschiert er, 6000 Seiten Notizen werden dem knapp 500seitigen Werk mit dem Titel "Kaltblütig" (Orginaltitel "In cold blood") bei seiner Veröffentlichung 1966 zu Grunde liegen.
Das alleine aber würde natürlich nicht den weltweiten Ruhm dieses zu seiner Veröffentlichung durchaus kontrovers diskutierten Romans rechtfertigen. Viel mehr ist es die Verbindung aus Beschreibungen, Interviews, Erzählungen, Expertenmeinungen, Debatten des Zeitgeschehens und Briefen, die meisterhafte Führung verschiedener Handlungsstrenge zu zentralen, verbindenen Stellen, nicht zuletzt der klare, sachliche und trotzdem die Emotionen ansprechende Stil, der aufs wesentliche verdichtet ist und dabei nichts vergisst.

Vorallem aber ist es die ausführliche Auseinandersetzung mit der Tat, den Ausagen und dem Leben der beiden schließlich überführten Täter, durch welche die Tat überhaupter klär- und fassbar wird und, so muss man es vielleicht sagen, auf eindringliche Art den Opfern wie den Tätern Gerechtigkeit wiederfährt. Damit reicht "Kaltblütig" hinaus über die Beschreibung eines Ereignisses und malt im Beispiel einen Ausschnitt der amerikanischen Gesellschaft, seziert die Entstehung von Gewalt, in Teilen sogar das Wesens des Menschen. Hierin liegt seine Aktualität.

Nichts desto trotz erlangt der Roman, zumindest für mich, seine entgültige Faszination erst in Verbindung mit seiner Entstehungsgeschichte. Es stellt sich hierbei die Frage, bis zu welchem Punkt qualitative Untersuchung (wie wir sie auch in vielen Bereichen der Wissenschaft finden) moralisch vertretbar ist und wie weit ein Autor bereit sein muss, sich selbst und seine Werte für sein Werk aufzugeben, welche Konsequenzen er zu tragen bereit sein muss.

Als beeindruckendes filmisches Erlebnis und geeigneter Einstieg in die Thematik kann der 2006 veröffentlichte und bei der Oscar-Verleihung premierte Film "Capote" gesehen werden.
Er zeigt mit welchen, teilweise erstaunlich billigen, Mitteln Capote die Sympatie der Dorfbewohner, der Ermittler und Mitarbeiter und schließlich der Mörder erlangt, wie er diesen immer wieder hilft einen Vollzugsaufschub der über sie verhängten Todesstrafe zu erwirken, um weitere Details und das letzte Puzzelstück, die Mordnacht, von ihnen selbst geschildert zu bekommen, wie er, nachdem er es erhält, nur noch auf ein baldiges Ende hofft und die Anrufe, Briefe und Bitten der beiden kaum mehr erträgt, wie er ihnen bei der Vollstreckung das letzte Mal begegnet und wie er darauf hin an sich selber in Drogenexzessen vergeht.

In seinem Fokus auf die Psychologie des Schriftstellers, erschreckend überzeugend gespielt von Philip Seymour Hoffman, ermöglicht er einen völlig neuen und interessanten Zugang zum Werk.
Vor diesem Hintergrund wird der Titel des Buches fast doppeldeutig, ist etwa Capote der eigentlich Kaltblütige, muss er es zumindest bis zur vollendung seines Romans sein? Symptomatisch, wie er den Häftlingen den bereits gefunden Titel seines Buches trotz mehrfacher Nachfrage vorenthält, um ihn dem Ermittler Dewey (immernoch erschüttert über den eigentlichen Fall) fast schon süffisant mit den Worten "Er wird ihnen gefallen" zu verraten.

Natürlich drängen sich Zweifel auf, ist ein Buch, ist dieses Buch das Drama seiner Entstehung wert gewesen. Diese Frage muss meines Erachtens unbeantwortet bleiben, vor eine vergleichbare Situation gestellt, wird jeder Mensch sie selber beantworten.
Oft sitzt man beim Lesen der Aussagen der Mörder, bei der Beschreibung ihres Verhaltens kopfschüttelnd über dem Buch, zu billig erscheint einem der Plot an manchen Stellen, zu konstruiert die Ausagen an anderen, aber im Bewusstmachen seines Wesens als Tatsachenroman eröffnet sich dem Leser die Brillanz und Zeitlosigkeit.

Kurze Biographie Truman Capotes

"Kaltblütig" bei Amazon
Sammlung englischsprachiger Filmkritiken zu "Capote"
Englischsprachige Seite des Films mit Trailer


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